Valerij Dem’jankov

Geheimnisse des Dialogs

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Sprachspiel und Bedeutung: Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 65. Geburtstag. Hgg. von S.Beckmann, P.-P.König, G.Wolf. Tübingen: Niemeyer, 2000. S.289-293.




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Das Wesen des Dialogs hängt mit dem Wesen des Menschen zusammen. Das Eindringen in die Geheimnisse des Dialogs ist für die Entdeckung des Men­schenwesens von großer Bedeutung.

Was aber ist ein effektiver Dialog? Was muß man (verbal und nicht-verbal) tun, um z. B. seinen Gesprächspartner auf etwas aufmerksam zu machen und so den Stil einer Diskussion zu verändern? Nicht jeder Kenner einer Sache ist in der Lage, dies zu tun und zugleich die Sympathien des Publikums zu gewinnen.

Mit solchen und ähnlichen Problemen beschäftigt sich die Theorie des Dialogs, die F. Hundsnur­scher seit vielen Jahren entwickelt hat.1

Der Dialog ist nicht nur ein Instrument, mit dem wir unsere Ziele erreichen. Mit F. Hundsnurscher, der („in ihrer relativen Analysierbarkeit“) drei Arten von Gesprächen (resultatorientierte, beziehungsorientierte und tätigkeitsorientierte Gespräche) unterscheidet, 2 kann man sagen:

To be sure, communicative interaction does not stop altogether when the communicative goal of a speech act has been reached”.3

Der Dialog schafft – wenn auch nicht immer direkt – neue Werte und hat des­wegen einen eigenen Wert. Zu diesen Werten gehören das Zusammensein der Menschen und das Gefühl der Einigkeit, der Harmonie, die das Gespräch be­gleitet. Ohne menschliche Kommunikation ist das Leben des Menschen kaum menschlich. Gerade diese Eigenschaft macht den Dialog so rätselhaft.

A. Schopenhauer hat einmal geschrieben:

„Nur sich selbst nämlich versteht man ganz; Andere nur halb; denn man kann es höchstens zur Gemeinschaft der Begriffe bringen, nicht aber zu der diesen zum Grunde liegenden an­schaulichen Auffassung. Daher werden tiefe, philosophische Wahrheiten wohl nie auf dem Wege des gemeinschaftlichen Denkens, im Dialog, zu Tage gefördert werden. Wohl aber ist ein solches sehr dienlich zur Vorübung, zum Aufjagen der Probleme, zur Ventilation

1 Vgl. z. B.: Hundsnurscher, Franz: Dialogmuster und authentischer Text, in: Hundsnur­scher, Franz; Weigand, Edda (Hgg.): Dialoganalyse. Referate der 1. Arbeitstagung, Münster 1986. Tübingen, 1986, S. 35–50; Hundsnurscher, Franz: Does a dialogical view of language amount to a paradigm change in linguistics. Language as dialogue, in: Stati, Sorin; Weigand, Edda (Hgg.): Methodologie der Dialoganalyse. Tübingen 1992, S. 1–14. (Beiträge zur Dialog­for­schung 3); Hundsnurscher, Franz: Some remarks on the development of dialogue analysis, in: Hundsnurscher, Franz; Weigand, Edda (Hgg.): Future perspectives of dialogue analysis. Tübingen 1995, S. 79–93.

2 Hundsnurscher, Franz: Typologische Aspekte von Unterrichtsgesprächen, in: Weigand, Edda; Hundsnurscher, Franz (Hgg.): Dialoganalyse II. Referate der 2. Arbeitstagung, Bochum 1988. Bd. 1. Tübingen 1989, S. 237. (Linguistic analysis 229)

3 Hundsnurscher, Franz: On insisting, in: Parret, Herman; Sbisà, Marina; Verschueren, Jef (Hgg.): Possibilities and limitations of pragmatics. Proceedings of the Conference on Pragmatics, Urbino, July 8–14, 1979. Amsterdam 1981, S. 346.


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derselben, und nachher zur Prüfung, Kontrolle und Kritik der aufgestellten Lösung. In die­sem Sinne sind auch Platons Gespräche abgefaßt, und demgemäßt ging aus seiner Schule die zweite und die dritte Akademie in zunehmend skeptischer Richtung hervor. Als Form der Mittheilung philosophischer Gedanken ist der geschriebene Dialog nur da zweckmäßig, wo der Gegenstand zwei, oder mehrere, ganz verschiedene, wohl gar entgegengesetzte An­sichten zuläßt, oder welche entweder das Urtheil dem Leser anheimgestellt bleiben soll, oder welche zusammengenommen sich zum vollständigen und richtigen Verständniss der Sache ergänzen: zum ersteren Fall gehört auch die Widerlegung erhobener Einwürfe. Die in solcher Absicht gewählte dialogische Form muß aber alsdann dadurch, daß die Ver­schiedenheit der Ansichten von Grund aus hervorgehoben und herausgearbeitet ist, ächt dramatisch werden: es müssen wirklich Zwei sprechen. Ohne dergleichen Absicht ist sie eine müssige Spielerei; wie meistens“.4

Diese Worte beinhalten die folgende Präsumtion: Der Dialog sei eine Form, die man für fertige Gedanken findet. Aber nicht weniger sinnvoll wäre es anzu­nehmen, daß der Gedanke in einer bestimmten Form geboren wird und ohne diese Form nicht möglich ist; sogar das rein theoretische Denken ist ohne diese Form nicht möglich und ist an sich schon dialogisch.

Der Dialog ist demnach nicht nur eine äußere Form des Gedankens, sondern der organisatorische Kern des Denkens. Das erste rätselhafte Moment besteht also darin, daß sogar das scheinbar monologische Denken dialogisch ist.

Wenn man einen Monolog analysiert, sieht man Beziehungen zwischen Sät­zen und sogar Satzteilen, die als Frage – Antwort, Behauptung – Verneinung usw. ausgelegt werden können, also als Entgegnung eines Alter-Ego des Verfassers. M. Bakhtin nennt diese Eigenschaft des Textes Polyphonie. Im Dialog aber sieht man diese Beziehungen in prototypischer Form; dazu schreibt F. Hundsnurscher:

„Dialoge in dem hier präparierten Sinn setzen sich aus Sprechakten zweier sprachlich Han­deln­der zusammen, d. h. sie sind Sprechaktsequenzen, in denen Sp1 und Sp2 abwechselnd auf­einander bezogene Sprechakte vollziehen, wobei sie gemeinsam handelnd individuelle Zie­le verfolgen“.5

Und umgekehrt: ein typischer Dialog ist monophon (aber nicht unbedingt mo­noton), er verwirklicht das Bestreben der Gesprächspartner, die ein bestimmtes Problem kooperativ lösen, eine Übereinstimmung herbeizuführen, die eine Vor­aussetzung für weitere Handlungen der beteiligten Personen sein kann. Dabei geht das kommunikative Handeln ins Handeln mit den in ihrer Rede betreffen­den Objekten über. Wo liegt aber die Grenze zwischen dem Dialog und dem Monolog?

Das zweite rätselhafte Moment des Dialogs besteht darin,

„[...] wie leicht und schnell Homogeneität, oder Heterogeneität des Geistes und Gemüths zwischen Menschen sich im Gespräche kund giebt: an jeder Kleinigkeit wird sie fühlbar. Betreffe das Gespräch auch die fremdartigsten, gleichgültigsten Dinge; so wird, zwischen wesentlich Heterogenen, fast jeder Satz des Einen dem Andern mehr oder minder mißfal­len, mancher gar ihm ärgerlich seyn. Homogene hingegen fühlen sogleich und in Allem

4 Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Bd. 2, in: Frauenstädt, Julius (Hg.): A. Schopenhauer’s sämtliche Werke. 2. Aufl., Neue Ausgabe. Bd. 6. Leipzig 1891, S. 7–8.

5 Hundsnurscher, Franz: Dialog-Typologie, in: Fritz, Gerd; Hundsnurscher, Franz (Hgg.): Hand­buch der Dialoganalyse. Tübingen 1994, S. 217.


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eine gewisse Uebereinstimmung, die, bei großer Homogeneität, bald zur vollkommenen Harmonie, ja, zum Unisono zusammenfließt“.6

In der Dialogatmosphäre sehen einige Musiktheoretiker eine Analogie zur Musik:

„Die Dialogstruktur ist verblüffend ähnlich den Dialogsverläufen etwa eines Ham­mer­schmidt­schen Dialogs oder eines Mozartschen Duetts: zuerst wechseln (nach einer Or­chester­einleitung) die beiden Soloinstrumente miteinander ab und reichen das Thema an­einander weiter, die Wechsel verdichten sich, und schließlich vereinen sich die beiden Ge­sprächspartner – besonders eindrucksvoll in der Kadenz“.7

Das Entstehen dieser Atmosphäre, wo die Meinungen der Kommunikations­partner erst langsam (oder – im Gegenteil – kadenzweise) zusammenfallen, ver­ursacht die Vielfalt des realen ‚Zusammenseins‘, wobei die volle Verständi­gung nur ein Einzelfall ist. Zwischen den Polen ‚Unfrieden und Feindseligkeit‘ auf der einen und ‚Sympathie und Zuneigung‘ auf der anderen Seite (die letzteren zwei charakterisieren die Gespräche mit unserem Jubilar) sind zahllose Über­gangsstufen denkbar.

Geheimnisvoll ist nicht nur, auf welche Weise und mit welchen Techniken eine sol­che Atmosphäre geschaffen wird, sondern auch wie die Gesprächspartner in die­ser Atmosphäre übereinstimmen. Die Gesprächspartner haben nämlich keine Partitur der Sinfonie, die wir Gespräch nennen, aber sie interpretieren die Äuße­rungen im Gespräch, als hätten sie solche Partituren. Der Dialog ist dynamisch, drama­tur­gisch abgestimmt, und die Übereinstimmungen und die (scheinbaren?) Dissonan­zen der Meinungen verraten verborgene Intentionen des hinter ihnen stehenden ‚Komponisten‘. Haben wir wirklich solche Partituren oder schreiben wir sie bei jeder Auffüh­rung immer wieder neu? Welche Regeln halten wir dabei ein?

Die Idee der Partitur widerspricht dem Glauben, daß man während des Ge­sprächs improvisiert, indem man neue Gedanken schafft und nicht etwas Vor­bedachtes, Vorprogrammiertes bloß vertont. Aber wie kann man die Dialog­dramaturgie erklären, die sich in jedem Gespräch so kunstvoll entwickelt wie ein Schauspiel während einer tausendmal geprobten Aufführung?

Im Gespräch harmonisiert man nicht nur in der allgemeinen Atmosphäre, son­dern auch in den Ansichten (die die gleichen Themen, topics, betreffen, vgl. das Gespräch drehte sich um diese Frage) und in der Auslegung der Urteile über verschiedene Gegenstände:

„Der Konsonanz-Begriff [...] muß im metaphorischen Sinne verstanden werden; konsonant hier (noch) nicht als tatsächliches Zusammenklingen von Äußerungsakten, sondern als harmonischer Zusammenklang der gesamten Gesprächshandlungen im reflexiven Inte­r­aktionsprozeß“.8



6 Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Bd. 1, in: Frauenstädt, Julius (Hg.): A. Schopenhauer’s sämtliche Werke. 2. Aufl., Neue Ausgabe. Bd. 5. Leipzig 1891, S. 473–474.

7 Kleinen, Günther: Dialoge in der Musik, in: Heidrichs, Wilfried; Rump, Gerhard Charles (Hgg.): Dialoge. Beiträge zur Interaktions- und Diskursanalyse. Hildesheim 1979, S. 193.

8 Glindermann, Ralf: Zusammensprechen in Gesprächen. Aspekte einer konsonanztheore­ti­schen Pragmatik. Tübingen 1987, S. 35.


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Wichtig ist es, nicht nur die Urteile harmonisch zu formulieren, sondern sie auch zur rechten Zeit abzugeben und – ganz besonders – passende Konsonanz-und/oder Dissonanzsignale zu geben. Meinungsverschiedenheiten stehen die­sem Prozeß nicht im Wege.

Zu den Bedingungen, die die Harmonie im Dialog vorbestimmen, gehören viele Faktoren, z. B. ähnliche Realitätsinterpretationen und ein ähnliches All­tags­­bewußtsein der Beteiligten, „die möglichst deckungsgleiche Interpretation der Handlungsstruktur“, „eine sequentiell bedingte Erwartbarkeit interaktiver (Sinn-) Elemente“9.

Eine sympathetische Harmonie zwischen den Gesprächspartnern als Produkt des Dialogs wird im Rahmen der dialogischen Harmonie geschaffen und be­kräftigt. In diesem Zusammenhang ist folgender Gedanke F. Hundsnurschers bemer­kenswert:

„Die dialogische Grundstruktur tritt in der relativen Kohärenz der einzelnen Gesprächs­sequenzen zutage. Auf dieser Kohärenz der einzelnen Gesprächsbeiträge, bezogen auf die kommunikativen Ziele der Sprecher, beruht die Regelhaftigkeit eines Gesprächs, seine re­lative Wohlgeformtheit“.10

Die Kohärenz aber ist ein Teil der Dialogatmosphäre: Was in einem Gespräch kohärent zu sein scheint, würde in einem anderen Gespräch unpassend klingen. Deswegen kann man behaupten, daß die dialogische Grundstruktur eine Vor­stellung von der Dialogatmosphäre vermittelt.

Um solche Abgestimmtheit auf der Bühne zu erzielen, müssen die Schau­spie­ler mit einem guten Regisseur sehr viel üben. Unser innerer ‚Regisseur‘, der die Alltagsdialoge so gut inszeniert, ist wahrhaft ein Genie. Wer aber ist er?

Diese Harmonie ist dem Zustand eines aus mehreren zusammenwirkenden Teilen bestehenden Organismus ähnlich.

Die ‚Dialogregie‘ wird beeinflußt durch die Persönlichkeit der Gesprächs­part­ner wie auch durch globale und lokale Ziele des Gesprächs.

Die Gesprächspartner verändern mit performativen Handlungen ständig ih­ren „Wissens- und Beziehungsstand und tragen somit zum Handlungsfortschritt im Sinne einer intentionalen Situationsveränderung“11 und zur Konstitution ei­nes Gesamtzusammenhangs der Kommunikation im allgemeinen bei, d. h. nicht nur der dramatischen Handlung, sondern auch der alltäglichen Sprechhandlung.

Wie im dramatischen Dialog, so sind auch im Alltagsgespräch nur be­stimm­te Sprechhandlungen zu einer bestimmten Zeit regelhaft und akzeptabel, wäh­rend andere Handlungen die Dialogregeln verletzen und Inkohärenz

9 Glindermann, 1987, S. 119.

10 Hundsnurscher, Franz: Zur dialogischen Grundstruktur von Mehr-Personen-Gesprächen, in: Stati, Sorin; Weigand, Edda; Hundsnurscher, Franz (Hgg.): Dialoganalyse III. Referate der 3. Arbeitstagung, Bologna 1990. Teil 1. Tübingen 1991, S. 160. (Beiträge zur Dialog­for­schung 1)

11 Schmachtenberg, Reinhard: Sprechakttheorie und dramatischer Dialog. Ein Methoden­an­satz zur Drameninterpretation. Tübingen 1982, S. 2.


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ver­ursachen12 und deswegen zusätzliche Auslegungen erforderlich machen, um verlo­rene Harmonie wiederzugewinnen.

Das dritte rätselhafte Moment des Dialogs besteht darin, daß die Gesprächs­partner handeln, als ob sie zur gleichen ‚Darstellungsschule‘ gehören, obschon es keinen Regisseur gibt, der ihre Dialoge inszeniert.

Die Gesprächsteilnehmer teilen normalerweise miteinander die „gemein­same Atmosphäre, aus der sich erst dann eine interpersonale – intersubjektive Begegnung entfalten kann“13. Pathologisch sind die Dialoge, in denen eine sol­che Atmosphäre fehlt:14

„In der Schizophrenie leidet das Gespräch an einer schwerwiegenden Destruktion. Gesprä­che im eigentlichen Sinne kommen überhaupt nicht zustande oder werden grundsätzlich verzerrt; so daß es beim Kranken anstatt zur Selbstverwirklichung vielmehr zur Verwirkli­chung der fremden Macht in der ‚Mitte der Welt‘ kommt, also dort, wo sich das eigene Selbst verwirklichen sollte“.15

Dieser Gesprächsstil erinnert an den Dialog in der ‚post-modernen‘ Dramatur­gie,16 besonders im „Theater des Absurden“; und diese hängt wohl mit einer neuen Welle in der Dramaturgie des Alltagsdialogs zusammen.




12 Vgl.: Wunderlich, Dieter: Pragmatik, Sprechsituation, Deixis, in: Zeitschrift für Literatur­wis­senschaft und Linguistik 1/2 (1971), S. 178.

13 Kimura, Bin: Die Bedeutung der „Atmosphäre“ für das Gespräch, in: Grassi, Ernesto; Schma­le, Hugo (Hgg.): Das Gespräch als Ereignis. Ein semiotisches Problem. München 1982, S. 35.

14 Vgl. Carpenter, Kathie: Neologisms in word salad. How schizophrenic speakers make themselves misunderstood, in: Proceedings of Annual Meeting of the Berkeley Linguistics Society 8 (1982), S. 562–571; Dascal, Marcelo: Contextualism, in: Parret, Herman; Sbisà, Marina; Verschueren, Jef (Hgg.): Possibilities and limitations of Pragmatics. Proceedings of the Conference on pragmatics, Urbino, July 8–14, 1979. Amsterdam 1981, S. 153–177.

15 Kimura, 1982, S. 42.

16 Vgl. z. B.: Roemer, Michael: Telling stories. Postmodernism and the invalidation of traditional narrative. Lanham (Maryland) 1995; Leitch, Vincent B.: Postmodernism – local effects, global flows. Albany 1996.